Gedanken

Warum reist der Mensch?

Es ist angesagt, das Reisen. Viele sind unterwegs. Over-Tourismus ist ein Schlagwort dafür geworden, dass es auch zu viel Reiserei geben kann. Uns sind bis jetzt an drei Orten Reisende begegnet: In Oslo sind die Menschen trotz Regenwetter in Scharen auf dem neuen begehbaren Opernhaus spaziert, im Munch Museum wurden die Tickets an den drei Schaltern im Sekundentakt verkauft. In Bergen standen sich die Touristen im Brygger Viertel auf den Füssen und bei der Standseilbahn stauten sich die Wartenden für eine Aussichtsfahrt auf den Hausberg. Auf den Strassen schliesslich schleichen die Camper manchmal hintereinander her.

Warum reisen alle diese Menschen?

Muess mer's gseh ha? Ist es das? Um dabei zu sein. Um Mitreden zu können. Ist es ein Erlebnishunger? Oder ist es doch mehr?

Warum reisen wir? Sicher ist es auch die Freude an Erlebnissen. Dann die Freude, Neues zu entdecken. Uns ist es eigentlich zuwider das zu machen, was alle machen. Wir suchen mehr das Überraschende, Unbekannte, die Begegnung. Denn dann kann man etwas lernen. Der eigene Horizont weitet sich. Der Respekt vor anderen Lebensbedingungen und Lebensweisen wächst. Das relativiert vieles in der eigenen Alltagswelt. Scheinbar grosse Probleme werden plötzlich relativ und klein. Das tut gut. Es weitet das Herz. Es macht bescheiden.

 

Wir werden in Norwegen oft für Leute aus den Niederlanden gehalten; Schweizer Touristen gibt es offenbar seltener. "Warum kommt ihr aus der Schweiz hierher?" meinte eine Frau. "Ihr habt doch viel schönere Berge. " Unsere Antwort: Mag sein. Aber wir geniessen die Weite und Vielfalt der schönen Natur in Norwegen. 200 auf 300 Kilometer ist wahrlich ein kleiner Fleck, auf dem wir leben.

Emmanuel Carrère, Das Reich Gottes.

Der 1957 geborene französiche Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur schrieb ein Buch über das Christentum, in dem er dem Fragwürdigen und Wesentlichen des christlichen Glaubens auf die Spur kommen wollte. Relativ unreligiös aufgewachsen machte er als junger Familienvater eine stark religiöse Phase durch, die geprägt vom Bibellesen und katholischen Messebesuch war. Irgenwann hat er sich davon abgewandt und bezeichnet sich seither als Agnostiker (ich weiss nicht, ob es einen Gott gibt). Irgendwie beneidet er die Glaubenden aber auch die Atheisten, weil sie etwas hätten, an was sie sich halten könnten. Deshalb wendet er sich nach dreissig Lebensjahren nochmals dem Christentum zu. Zuerst überlegt er sich, an einer christlichen Wallfahrt ins Heilige Land teilzunehmen, nicht aus Interesse für die Wirkungsstätten frühchristlichen Lebens, sondern um Leute zu ihrem Glauben befragen zu  können. Doch nimmt er dann davon Abstand und befasst sich intellektuell und historisch mit den Figuren des frühen Christentums, vor allem mit Paulus und dem Evangelisten Lukas. Es gelingt ihm in seinem Buch relativ gut, zeitgeschichtliche Bedingungen des frühen Christentums aufzuzeigen. Auch ist er erzählerische ein Meister darin, plausibel zu schildern, wie ein Lukas oder ein Paulus gedacht haben könnten und deshalb so oder so gehandelt, geredet oder geschrieben haben. Manches ist aus historischen Kenntnisse überzeugend hergeleitet, doch manches ist auch Interpretation des Autors. Die geschichtlichen Erkenntnisse sind auch begrenzt. Lange folgt man Carrère seinen Schilderungen als Ermittler frühchristlicher Geschichte und Figuren ohne das Fazit für den Autor zu erahnen. Erst im Epilog bezieht Carrère Position. Mit einer eindrücklichen Metapher beschreibt er das Christentum als  Entwicklung. Jesus war das Kinderstadium. Paulus war das Stadium der Pubertät. Nach der konstantinischen Wende, bei der das Christentum Staatsreligion wurde, trat das Christentum ins Erwachsenenleben. Viel Gutes ist da im Namen der Kirche geschehen, aber auch Fehler. Seit der Aufklärung hat die Kirche die Macht abgeben müssen und ist ins Rentenalter getreten. Erstaunlich und einmalig in den Augen Carrères ist, dass sich das Christentum als Renternin immer noch am Kinderstadium orientiert und darin die höchste Echtheit sieht. Wie er das wertet, bleibt offen. Damit ist er sich der agnostischen Haltung treu. Jedenfalls wird Carrère von einer kritischen Leserin aufgefordert, an einer Arche-Versammlung sich die Füsse waschen zu lassen und anderen die Füsse zu waschen. Etwas, was Jesus gemäss dem Johannesevangelium am letzten Abend seines Lebens getan hat. Die Archegemeinschaften praktizieren ein Zusammenleben von Menschen mit Behinderung mit Menschen ohne Behinderung. Carrère nimmt teil im Kreis von verschiedenen Personen ohne und mit Behinderung und macht dabei für ihn überraschenderweise eine besondere Erfahrung: "Für einen kurzen Augenblick hatte ich einen Einblick ins Reich Gottes." Was er damit meint, das findest Du heraus, wenn Du das Buch liest.

So ist Carrères Buch letztlich kein Buch eines Agnostikers, sondern eines suchenden Menschen, der aufgrund seiner Suche dem Glauben nahe kommt.

Fazit: Lesenswertes Buch für Menschen, die mehr über frühchristliche Hintergründe biblischer Texte erfahren möchten, oder für Menschen, die sich fragen, weshalb Christen wider alle Vernunft glauben.

 

Andreas Russenberger, Paradeplatz

Andreas Russenberger habe ich an einem Anlass in Arosa per Zufall kennengelernt. Auf meine Frage hin, was er beruflich mache, meinte er, er schreibe mittlerweile Bücher. Das weckte meine Neugier. So habe ich mir seinen ersten grossen Erfolgsroman besorgt. Russenberger schreibt gemäss eigenen Worten über menschliche Schwächen, die in uns allen stecken, mit etwas schwarzem Humor und auch etwas überzeichnet. Seit mehreren Jahren bin ich Krimi-abstinent, weil ich Unterhaltung mit Thema "Tod" nicht mag. Zu hart ist die Wirklichkeit, als dass ich damit spielen kann, weder als Autor noch als Konsument. So machte ich mich kritisch an die Lektüre.  Obwohl der Tod im Buch von Russenberger vorkommt, wurde ich positiv überrascht. Die Charaktere werden glaubhaft und menschlich geschildert. Das Plädoyer für Ehrlichkeit, welches das Buch als Botschaft enthält, gefällt mir sehr. Die Sprache ist anschaulich und differenziert ohne zu anspruchsvoll zu sein. Der Stilwechsel zwischen Erzählung in dritter Person und erster Person ist raffiniert. Und das Buch hat mich mit zwei überraschenden Wendungen überrascht.

Wer spannende Unterhaltung mit Qualität und Menschlichkeit mag, sollte das Buch lesen.

Ankommen und Weggehen

Mittlerweile, am 8. September, sind wir am 8. Ort. Wir fahren und dann sind wir meist ein oder zwei oder sogar drei Tage an einem Ort, bevor wir weiterziehen. Ich geniesse jeden Ort ausgiebig, doch es ist für mich auch emotional anstrengend. Kaum habe ich mich auf etwas Neues eingelassen, habe ich es zu entdecken begonnen, heisst es wieder Abschied nehmen. Das ist für mich eine neue Erfahrung. Sind es die vielen Eindrücke, die meine Seele nicht verarbeiten kann? Ist es der Wunsch etwas vertieft angehen zu können? Interessant ist es, was so eine Reise mit einem macht. Im Vorfeld habe ich gedacht: Na ja, Skandinavien ist Skandinavien. Da fährst Du ein bischen rum wie durch Graubünden, entdeckst das eine oder andere. Doch nun ist es anders. Wir legen jeden Tag von der Distanz her mindestens eine Reise quer durch die Schweiz zurück. Das ist wie wenn man vom Comersee ins Elsass wechselt oder vom Genf ins Münstertal . Bisher hatte jeder Ort seinen eigenen Charakter, jede Landschaft ist ganz anders geprägt. Es wartet immer wieder Neues auf uns. Werde ich mich daran gewöhnen? Oder werde ich eines Tages sagen: Nun ist es genug?

Georg W. Betram / Michael Rüsenberg, Improvisieren! Lob der Ungewissheit

Die beiden Autoren gehen dem Begriff und der Rolle der Improvisation in verschiedenen Lebensbereichen nach. Vielfach hätten die Menschen einen falsche Vorstellung vom Improvisieren. Improvisation gelte als Notlösung für die Momente, wo man nicht mehr weiter weiss. Doch Improvisation ist für die Autoren viel mehr, nämlich die Fähigkeit, die den Menschen auszeichnet, mit Veränderungen konstruktiv umgehen zu können und sich so weiter zu entwickeln. Improvisation ist dabei nicht ein Stegreifgeschehen aus dem Moment, sondern knüpft an Erfahrungen und an Eingeübtem aus der Vergangenheit an und ist zukunftsgerichtet. "Nur dann, wenn wir Ungewissheit akzeptieren und - mehr noch - wenn wir sie suchen, werden wir den Herausforderungen irgendwie gewachsen sein. Ob wir sie in ein positives Ergebnis wenden können, ist - wie bei jeder Improvisation - offen." Dieses Fazit zeigt, dass wir auf Improvisation angewiesen sind, dass sie geradezu ein Motor ist für die Weiterentwicklung der Menschheit. Interessant sind die verschiedenen Lebensbereiche, welche die Autoren in einzelnen Kapiteln erläutern: Musik (Jazz und Klassik), Film (Improvisationsfilme wie zum Beispiel Tatort-Folgen), Gespräch, Medizin, Politik, Organisationsstruktur in der Wirtschaft, Fussball und Recht. Dabei werden auch die Begriffe Gewohnheit und Entscheidung klärend erläutert. 

Ich habe das Büchlein aus drei Gründen für die Lektüre gewählt.

Erstens suche ich nach einer Theorie für die von uns seit vier Jahren praktizierten m&m Gottesdienste, in denen wir "improvisiert" nach Vorgaben der Gottesdienstbesucherinnen predigen.

Zweitens ist Improvisation Thema beim Verlassen gewohnter Pfade. Das trifft für eine Reise in ungewohnte Gefilde zu, wie wir sie gerade machen, aber auch für unerwarte technische Probleme, häufig in meinem Hobby mit alten Modelleisenbahnloks. Aufgrund von angeeigneter Erfahrung gilt es, sich auf neue, überraschende oder unerwartete Situationen einzulassen und kreativ nach Lösungen zu suchen.

Drittens wollte ich prüfen, ob Improvisation in einer kirchenleitenden Funktion hilfreich ist. Das Büchlein hat mir eindeutig eine bejahende Antwort geliefert. Bei vielen Entscheiden, die ich in den letzten vier Jahren als Dekan oder Kirchenrat (mit-) zu fällen hatte, blieb bei mir ein Moment des Nichtwissens zurück. Obwohl nach vielem Abwägen, Nachdenken und Diskutieren die Entscheide gefällt wurden, schien es mir philosophisch schwierig, dass wir vieles auch nicht wissen. Nun ist mir klar geworden, dass gerade diese Unsicherheit eine Chance für eine Weiterentwicklung sein kann. Improvisation wagt aufgrund von Übung und Erfahrung, Impulse zu setzen, welche für Antworten offen sind. Das hält eine interaktive Weiterentwicklung im Fluss. Insofern gehe ich mit den Autoren einig, dass Improvisieren nicht Freiheit benötigt, sondern eigentlich neue Freiheiten schafft, die Freiheit etwa auf Neues reagieren zu können oder die Freiheit, auf gute Entwicklungen für die Zukunft setzen zu können, die sich aus dem Zuammenspiel der Akteurinnen und Akteure immer wieder neu ergeben.

Dichtestress?

Wenn man durch Länder reist, die ein Vielfaches der Fläche der Schweiz haben, aber weniger Einwohner oder gleich viel, und wenn man die Zufriedenheit und Gelassenheit der Menschen in diesen grossflächigen Länder beobachtet, beginnt man sich zu fragen, ob wir in der Schweiz nicht längst an eine Grenze einer gesunden Besiedlungsentwicklung gestossen sind. Haben wir heute in der Schweiz nicht manche Probleme, weil viele Menschen an Dichtestress leiden? 

Verschiedene Kirchen

Der Besuch der Messe im Dom von Uppsala hat mich nachdenklich gestimmt. Was ist evangelisch? Was ist katholisch? Die Grenzen in der Liturgie der Svenska Kyrka sind fliessend. Wie im ersten Sabbatical erlebe ich ein zweites Mal Kirche nochmals ganz anders, damals in Kreta mit dem Olivenbauer-Priester und seiner Familie und der orthodoxen Liturgie, jetzt mit einem priesterlichen evangelischen Pfarrer, der einen Teil der Messe wie vor dem katholischen Konzil liest, zugleich in seiner Kurzpredigt über die Vielfalt der Kirchen spricht. Das wäre alles keine Problem, wenn man überall willkommen wäre, eingeladen mit zu machen und teilzunehmen. Doch so ist es leider nicht. Während die evangelischen Kirchen in verschiedener Abstufung durchaus Gastfreundschaft leben, ist der orthodoxe und katholische Flügel zurückhaltend, weil ein Teil des Bodenpersonals auf das rechte Verständnis, den rechten Glauben pocht. Haben die Kirchen vielleicht auch deshalb ihre Glaubwürdigkeit in der modernen Welt verloren, die Offenheit und Unvoreingenommenheit zu leben versucht. Denn was hat es mit Jesu Leben und Verkündigung zu tun, wenn man sich mit rechter Liturgie und rechter Glaubenslehre befasst, statt Liebe zu leben? Es ist so zufällig, in welche Tradition man hineingeboren wird. Es ist so zufällig, wie da die Menschen Christus nachfolgen, wie sie Kirchengemeinschaft leben, wie sie Gottesdienste feiern. Keine und keiner konnte wählen, ob man in Griechenland, Schweden oder der Schweiz geboren wird, und in welche Konfession man hineingesetzt wird, wenn man denn überhaupt noch eine hat.

Schön war: So fremd und vertraut die "Messe" im Dom war, wir waren willkommen. Danke.

Gottesdienstzeiten

Wie schon im Blog erwähnt, fallen mir die späten Gottesdienstzeiten auf. Es wird durchaus am Sonntag Gottesdienst gefeiert, aber das Früheste ist 11.00 Uhr. Nicht nur in der offiziellen Staatskirche Svenska Kyrka, sondern auch in freikirchlichen Gemeinden, von denen es im Norden auch in kleinen Siedlungen auffallend viele gibt. Für unsere Verhältnisse in der Schweiz ist das bedenkenswert. Müsste man nicht den Mut haben, Gottesdienste vom Rand des Tages weg in die Mitte zu rücken? Warum halten wir immer noch am Sonntagmorgen fest, wenn so viele Menschen lieber ausschlafen und brunchen?